Digitale Gesundheitsanwendungen


Zwei Startups über ihren Weg in die Regelversorgung.

Nachgefragt: Über 1 Jahr Digitale Gesundheitsanwendungen


März 2022

"Wir beschließen heute hier eine Weltneuheit" – mit diesen Worten hat der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Einführung der Digitalen Gesundheitsanwendungen (kurz: DiGAs) im November 2019 auf den Weg gebracht. Im Oktober 2020 war es dann soweit: Die "App auf Rezept" wurde Teil der Regelversorgung und kann seit nun mehr einem Jahr von Heilberuflerinnen und Heilberuflern zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verschrieben werden. Bisher befinden sich 31 Gesundheits-Apps im DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (kurz: BfArM) (Stand: 28.03.2022) – zehn davon dauerhaft.

Doch wie steht es eigentlich um die App auf Rezept nach über einem Jahr in der Regelversorgung?

Welche Erfahrungen zeigen sich nach einem Jahr DiGA in der Praxis? Wir wollten es genauer wissen und haben zwei Startups interviewt:
 
  • aidhere, die mit ihrer digitalen Adipositastherapie "zanadio" eine der ersten DiGAs auf den Weg bringen konnten. Unsere Fragen rund um die Anwendung beantwortet Nora Mehl, Mitgründerin von aidhere.
 
  • Medipee, die Gewinner des letzten d-health up Wettbewerbs. Thomas Prokopp (Mitgründer) gewährt uns Einblicke in das digitale, apfelgroße Produkt für die Urinanalyse. Medipee stellt gerade die Weichen, um den Schritt in die Regelversorgung zu schaffen.


Zusätzlich stand uns Henrik Mencke vom Health Innovation Port (kurz: HIP) Rede und Antwort. Gegründet von der Philipps GmbH unterstützen sie als Accelerator Junggründerinnen und Junggründer aus dem medizinischen Bereich – beispielsweise indem sie die notwendige Infrastruktur und ein breites Netzwerk bereitstellen. Seit Januar 2021 sind HIP und apoBank Partner, wenn es um den Austausch in Sachen Startups im Gesundheitswesen geht.

HIP: Welche Rolle spielt das Thema DiGA in eurem Alltag mit Junggründern aus dem medizinischen Bereich?

Henrik Mencke: DiGAs stellen einen elementaren Baustein auf dem Weg zum Gesundheitssystem der Zukunft dar. Wir dürfen nicht nur Prozesse und Abläufe digital denken, sondern müssen auch dafür sorgen, dass die Versorgung von Patientinnen und Patienten digital unterstützt wird. Daten zeigen, dass digitale Anwendungen in der Gesundheitsversorgungen sehr positive Therapieeffekte haben können. Eine permanente Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis findet nur statt, wenn ein Nutzennachweis vom Hersteller erbracht werden konnte. Aktuell sind zehn DiGAs dauerhaft aufgenommen. Der DiGA-Hersteller HelloBetter konnte beispielsweise nachweisen, dass eine Nutzung der App "HelloBetter Stress und Burnout" zu einer signifikanten Reduktion der beruflichen Stressbeanspruchung führt. Für uns als Startup-Förderer ist es demnach unbedingt wichtig, DiGAs zu unterstützen.

aidhere: Mit eurer ersten Gesundheitsanwendung "zanadio" habt ihr das Bewerbungsverfahren (Fast-Track-Verfahren) des BfArM erfolgreich durchlaufen. Wie funktioniert eure Anwendung und für wen ist sie geeignet?

Nora Mehl: "zanadio" bietet eine umfassende Therapie aus mehreren Modulen für Patientinnen und Patienten mit Adipositas. Sie umfasst die Therapiesäulen Ernährung, Bewegung und Verhalten und setzt die Wirkprinzipien der etablierten, konservativen Basistherapie digital um. Wir ermöglichen damit zielgerichtete Hilfe bei der Änderung von Lebensstilen, um eine langfristige Reduktion von mindestens 5 bis 10 Prozent des Körpergewichts zu erreichen. Dabei geht es nicht um kurzfristigen Verzicht, Verbote oder Kalorienzählen. Stattdessen setzen wir auf die langfristigen Effekte einer Verhaltensänderung. Im ersten Schritt gilt es, das eigene Verhalten durch Selbstbeobachtung zu erkennen. Dies erfolgt z. B. über eine Trackingfunktion, die Ernährung und Bewegung in der App automatisiert erfasst. Im nächsten Schritt wird das Verhalten durch das Erlernen neuer Strategien verändert und im letzten Schritt dann durch das Formen neuer Gewohnheiten gefestigt. Hier geht es beispielsweise darum, dauerhaft mehr Bewegung im Alltag unterzubringen oder neue Essgewohnheiten im Alltag zu etablieren. Entwickelt wurde "zanadio" in Zusammenarbeit mit Fachkräften aus den Bereichen Medizin, Ernährung, Bewegungswissenschaften und Psychologie.
zanadio App auf dem Smartphone

aidhere: Was hat euch die Zertifizierung als DiGA gebracht? Welchen Mehrwert habt ihr bzw. die Heilberufler dadurch? Könnt ihr etwas dazu aus eurem Alltag berichten?

Nora Mehl: Durch "zanadio" ist eine medizinisch fundierte Adipositastherapie erstmals als Regelleistung aller Kassen für gesetzlich Versicherte verfügbar - ohne jegliche Zuzahlung. Da "zanadio" als digitale Anwendung für Patient*innten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche verfügbar ist, bietet es Heilberuflerinnen und Heilberuflern die Chance, ihre Patienten auch außerhalb der Praxis versorgt zu wissen. Auch können diese das Behandlungsprogramm zeitlich flexibel und ortsunabhängig nutzen. "zanadio" kann einfach von Ärztinnen und Ärzten aller Fachrichtungen sowie von Psychotherapeuten über Kassenrezept verschrieben werden und ist extrabudgetär, d.h. belastet weder Arznei- noch Heilmittelbudget. Der (technische) Kundensupport wird direkt durch den Hersteller übernommen und Heilberufler haben die Möglichkeit, durch einen Nutzungsbericht die Therapie und Erfolge ihrer Patienten aktiv zu begleiten.

Medipee: Wo steht ihr gerade im DiGA-Prozess?

Thomas Prokopp: Wir haben 2021 eine Vorstudie zum Thema Harn- und Nierensteine durchgeführt. Daran knüpfen wir aktuell eine große Folgestudie mit fünf Kliniken an. Die ersten Daten der Studie sollen direkt in den DiGA-Antrag einfließen. Seitens Technik, Datenschutz und Zertifizierungen sind wir bereits DiGA-konform aufgestellt und müssen lediglich den Schalter umlegen. Da unser Plattform-System für sehr viele Anwendungsfälle einsetzbar ist (Schwangerschaftsmonitoring, Nierenleiden, Harnwegsinfekte, Harn- und Nierensteine etc.), wollen wir sukzessive weitere Digitale Gesundheitsanwendungen anmelden, sobald die entsprechende Evidenz vorliegt, die das BfArM für eine DiGA-Zulassung fordert.
Medipee App auf dem Smartphone

Medipee: Was lief sehr gut? Was waren bisher die größten Herausforderungen?

Thomas Prokopp: Die größte Herausforderung für uns war und ist sicherlich, die geforderte Evidenz für Gesundheits-Apps zu generieren. Bedingt durch die Corona Pandemie hatten wir enorme Probleme an die notwendigen Bauteile für unsere Test-Geräte zu gelangen (insbesondere Sensoren und Chips). Auch die Patienten-Akquise war schwieriger. Dadurch hat sich alles immer wieder verzögert. Die Umsetzung der sonstigen Anforderungen (Server, Prozesse, Datenschutz) des BfArM waren anspruchsvoll, aber lösbar.

Medipee: Wie steht ihr zu den Vorwürfen der Kassen in Bezug auf mögliche Kostenexplosionen?

Thomas Prokopp: Eine Kostenexplosion halten wir für unwahrscheinlich. Bisher ist die Anzahl der DiGAs sehr überschaubar und verglichen mit den allgemeinen Kosten bspw. für Medikamente und andere medizinische Leistungen völlig im Rahmen.

Vor allem für kleine Unternehmen muss es Möglichkeiten geben, die enormen Aufwendungen für die Zulassung zu refinanzieren. Erfahrungsgemäß gibt es bei innovativen Startups keine großen Abteilungen für die vielen relevanten Zulassungsthemen, wie Zertifizierung einer Digitalen Gesundheitsanwendung als Medizinprodukt, für die Beratungen beim BfArM, für die Gebühren der Antragstellung, für die Studien, für die Produktüberwachung und die Dokumentationspflichten nach der Listung im DiGA-Verzeichnis uvm. Das passiert neben dem täglichen Kampf, häufig in Personalunion und ohne doppelten Boden. Diese enorme Vorleistung muss sich wieder einspielen – und bisher ist das nicht unbedingt der Fall. So gesehen, sind es häufig die Startups, die voll ins Risiko gehen mit dem Vertrauen, dass sich in Zukunft die Situation verbessert.

aidhere: Derzeit sind viele Heilberuflerinnen und Heilberufler bei der DiGA-Verordnung noch verhalten. Was, glaubt ihr, sind die Gründe dafür und wie habt ihr Heilberufler und Patienten auf eure Anwendung aufmerksam gemacht?

Nora Mehl: Der Hauptgrund ist, dass DiGAs als Neuheit auf dem Gesundheitsmarkt noch sehr erklärungsintensiv sind. Dies umfasst nicht nur die indikationsspezifischen Inhalte jeder DiGA, sondern auch allgemein den Verordnungsprozess. Wir verstehen es als unsere Aufgabe, Ärzten und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die entsprechenden Informationen zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht u.a. über Mailings an Praxen, Printwerbung, Online-Seminare und die Teilnahme an Kongressen. Darüber hinaus haben wir zusammen mit vier anderen DiGA-Herstellern die DiGA info gegründet, ein Unternehmen, das hausärztliche Praxen über die Einsatzmöglichkeiten Digitaler Gesundheitsanwendungen aufklärt und Informationen zur Verschreibung bereitstellt.

aidhere/ Medipee: Was würdet ihr euch für die Zukunft wünschen?

Thomas Prokopp: Eine breite Annahme und Anerkennung der DiGA sowohl bei den Patientinnen und Patienten als auch den medizinischen Leistungserbringern. Die DiGA ist ein toller Ansatz, bei dem wir als Land weltweit eine echte Vorreiterrolle einnehmen!

Nora Mehl: Unser Ziel ist es, Patienten die bestmögliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung zu stellen. Daher wünschen wir uns, dass DiGAs noch besser in das Gesundheitssystem integriert werden, z.B. als Teil von etablierten, strukturierten Behandlungsprogrammen bzw. Disease-Management-Programmes (DMPs). Hierzu suchen wir auch aktiv den Austausch mit Fachkreisen, damit DiGAs optimal in den Praxisalltag integriert werden können. Zudem sind verlässliche Rahmenbedingungen wichtig, wie der weitere Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen (z. B. E-Rezept und elektronische Patientenakte).

Und wo kann die apoBank unterstützen?

DiGAs werden in Zukunft eine wichtige Rolle im Gesundheitswesen spielen. Als Bank der Gesundheit verfolgen wir die Entwicklung natürlich sehr genau mit. Unser Kompetenzzentrum apoHealth bereitet für unsere Kundinnen und Kunden regelmäßig alle Neuigkeiten rund um die Digitalisierung des Gesundheitswesens auf – so auch zum Thema DiGA. So finden Sie auf unserer Webseite alle wichtigen Informationen – vom Zulassungsprozess, über die Verordnung bis hin zu häufig gestellten Fragen (FAQ).

Und für Heilberufler, die DiGAs bereits verordnen, haben wir einen Flyer erstellt, mit dem sie ihre Patientinnen und Patienten über die Nutzung informieren können.