Pflege im Fokus


Hauptstadtkongress 2019

Status Quo Pflege


Pflegenotstand

Mit Blick auf den demografischen Wandel unserer Bevölkerung, die veränderten gesellschaftlichen Erwartungen oder die fehlenden Familienverbünde wird schnell klar, dass der Sektor Pflege sich um die Nachfrage keine Sorgen machen muss. Aber wie ist es um das Angebot bestellt? Welche Perspektiven haben die Beschäftigten und welchen Bedarf die Pflegebedürftigen?

Unbestritten und alarmierend sind die Zahlen zum Mangel an Pflegepersonal. Je nach Region, Blickwinkel und Versorgungsform fehlen bereits heute mehr als 20 Prozent. Zudem stieg zuletzt die Zahl der Pflegebedürftigen weiter an. Prognosen zufolge wird sie von heute 3,4 Mio. bis zum Jahr 2050 auf 5,3 Mio. Menschen anwachsen.

Der Hauptstadtkongress 2019 hat das Thema Pflege zu einem seiner Schwerpunkte gemacht. Die jeweiligen Akteure blickten aus unterschiedlichen Sichtweisen auf den Status Quo, aktuelle Lösungsansätze und Prognosen. Wir stellen Ihnen hier ausgewählte Aspekte der Diskussionen zusammen.

Herausforderungen

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Politik & Praxis


Konzentrierte Aktion Pflege kündigt Ergebnisse für Anfang Juni an

„Drei Minister leisten den Pflege-Schwur“, titelte die Bild-Zeitung Ende Juni 2018. Gesundheitsminister Jens Spahn, Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil versprachen im gemeinsamen Interview „mehr Pfleger, bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne“.
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Rahmenbedingungen der Berufsausübung im Fokus

Am 4. Juni will die hieraus entstandene Konzentrierte Aktion Pflege ihre Ergebnisse veröffentlichen. Auf dem Hauptstadtkongress gaben sich die Mitglieder der Arbeitsgruppen ein Gesicht: Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter des Bundesministeriums für Gesundheit, verwies hinsichtlich des Fachkräftemangels darauf, dass es insbesondere um die Rahmenbedingungen gehen müsse, damit Fachkräfte ihren Beruf ausüben und darin auch tätig bleiben.
Ehemalige Fachkräfte würden zu 48 Prozent zu ihrem Beruf zurückkehren, wenn diese verbessert würden. Wesentliche Ursache für einen Berufswechsel seien die unzuverlässigen Arbeitszeiten. Die Notwendigkeit einer besseren, idealerweise tarifgebundenen, Vergütung für die Berufstätigen betonte Staatssekretär Björn Böhning vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Der Anteil der Arbeitskräfte, die hier nicht zufrieden sind, sei zweimal so hoch, wie in anderen Branchen. Dass Pflege eine zentrale Aufgabe der Gesellschaft sei, für die es alle Kräfte brauche, war Aussage der Staatssekretärin Juliane Seifert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Flankiert von der neuen Werbekampagne für das Berufsbild seien Gründe und Möglichkeiten zur Bereitstellung der Pflegearbeitsplätze geschaffen. Mit Blick auf das Ziel, zehn Prozent mehr Auszubildende bis 2023 zu schaffen, warb sie für die Zusammenarbeit aller Akteure.

Gesellschaft mitnehmen

In der gleichen Session begrüßte Oliver Blatt, Leiter der Abteilung Gesundheit des Verbandes der Ersatzkassen die Konzentrierte Aktion Pflege, verwies jedoch hinsichtlich der Finanzierbarkeit darauf, dass letztlich die Beitragszahler die Kostensteigerungen bezahlen müssen. Bei Selbstanteilen von 1.800 Euro im Monat gelte es, die Gesellschaft und auch die anderen Berufsgruppen bei den Entwicklungen mitzunehmen.

Nachwuchs binden

Bernd Meurer, stv. Präsident des bpa – Arbeitgeberverbandes, ergänzte, dass ein Großteil der jetzt schon wenigen Arbeitskräfte auch bald im Rentenalter sein wird. Gesetze alleine würden keine Verbesserung bringen. Führen Quotenvorgaben zu Sperrungen oder Belegungsstopp, bleiben Menschen unversorgt. Es gelte, gute Arbeitsbedingungen in der Praxis zu schaffen: Auch nach der Ausbildung gehe es u.a. um eine vernünftige Bezahlung, die dann auch bei den Kostenträgern durchsetzbar sein müsse.

Politik spaltet das Krankenhaus: Pflege nicht mehr im Team?


Unter dieser Überschrift moderierte Gesundheitsunternehmer Prof. Heinz Lohmann die aktuelle Problematik mit Vertretern aus Praxis, Wissenschaft und Politik:
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Mit Kopfprämien auf Personalsuche

Barbara Schulte, Geschäftsführerin für Finanzen und Infrastruktur der Klinikum Region Hannover, konstatierte, dass es inzwischen kein Erkenntnisproblem hinsichtlich der fehlenden Pflegekräfte mehr gäbe. Doch auch wenn diese über das Personalstärkungsgesetz jetzt im Krankenhaus quasi voll finanziert würden, fehlen qualifizierte Mitarbeiter. Gekämpft wird mit Kopfprämien. Gewinner seien derzeit die Zeitarbeitsfirmen, die wiederum zum Nachteil der fest Beschäftigten, Einfluss auf die Gestaltung des Dienstplans nehmen. Wesentlich sei, das Zusammenspiel zwischen Arzt und Pflege wieder zu verbessern. Hier sei in der Vergangenheit insbesondere den Pflegenden viel zugemutet worden.

Erschwerte Personalsuche für Altenpflege und Reha

Qualifizierte Kräfte - da sie ja jetzt vollfinanziert würden - nicht als Hilfskräfte für fachfremde Tätigkeiten einzusetzen, war eines der Anliegen von Dr. Boris Augurzky, Leiter des Kompetenzbereichs Gesundheit des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Zufriedenheit mit der Arbeit sei zudem eng mit dem Arbeitsumfeld und den Inhalten verknüpft. Auch verwies er darauf, dass die derzeitige Finanzierungsregelung die Suche nach Pflegepersonal für die Altenpflege und Reha weiter erschwere.

Rahmenbedingungen verbessern

Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter des Bundesministeriums für Gesundheit verwies auf die Vorbereitungen für ein Personalbemessungsverfahren und die Weiterentwicklung der Regelungen nicht zuletzt durch die Ergebnisse der Konzentrierten Aktion Pflege.

Neue Gesetze, mehr Aufgaben – aber wie kann die pflegerische Versorgung vor Ort sichergestellt werden?


Die Berechnungen von Prof. Dr. Rothgang von der Universität Bremen belegen, dass bereits heute in Deutschland ein akuter Pflegenotstand besteht. Die Arbeitslosenquote für Pflegefachkräfte liegt bei 0,7 Prozent und die Zahl der Pflegebedürftigen wird weiter steigen. Betreiber stationärer Einrichtungen führen lange Wartelisten. Ambulante Pflegedienste weisen Pflegebedürftige und deren Angehörige ab. Zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs, müssten Pflegekräfte in Altenheimen nach seinen Berechnungen rund 600 Euro monatlich mehr verdienen. Der Gehaltsunterschied zwischen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sei enorm. Eine bessere Bezahlung von Pflegekräften in stationären Einrichtungen wäre jedoch mit einer Steigerung des Eigenanteils für Heimbewohner verbunden. Letztendlich führe dies zu einer unumgänglichen Reform der Pflegeversicherung. Als Reformansatz nannte er die Verlegung der Finanzierungskompetenz für die medizinische Behandlungspflege in die Krankenversicherung, die Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Vollversicherung sowie das Einfrieren des Eigenanteils in stationären Einrichtungen.

Landesverordnungen erschweren die Situation

Zentrale Ursache für den Pflegenotstand sieht Herbert Mauel vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste - bpa, in der Kleinstaaterei in der Pflege. In fast allen Bereichen der Altenpflege befinden sich auf Länderebene voneinander abweichende Regelungen – von der Helferausbildung über die Personalanforderungen bis zur Leistungsabrechnung. Hinzu kommen Förderungen nach kommunaler Bedarfssteigerung.

Regionale Bedarfe berücksichtigen

Dr. Bernhard Opolony, Leiter der Abteilung für Pflege im bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege wies darauf hin, dass nicht eine Pflegelandschaft sondern die jeweiligen Steuerungslogistiken von zentraler Bedeutung seien. Regionalisierte Bedarfs- und Angebotsprognosen, eine wohnortnahe Versorgung sowie die Förderung der Kurzzeitpflege seien entsprechende Ansätze. Hier wird der Freistaat Bayern ein Programm zur Investitionsförderung in der ambulanten und stationären Pflege sowie für den stärkeren Einsatz der Digitalisierung in der Pflege auflegen.
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Innovationen & Finanzierung


Status Quo und Prognosen in der ambulanten Pflege

76 Prozent der 3,4 Millionen Menschen, die 2017 pflegebedürftig waren, werden zu Hause versorgt. An fast 100 Tagen im Jahr werden die Angehörigen dabei von der häuslichen Krankenpflege unterstützt. 200.000 Personen, so die Schätzungen und Statistiken, die Bernd Tews, Geschäftsführer des bpa – Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste vorstellte, werden informell über den sogenannten „grauen Pflegemarkt“ versorgt. Der Pflegenotstand zeige sich auch darin, dass eine Vielzahl von Anfragen in einzelnen Bundesländern bereits abgelehnt wird.

Bei diesen Zahlen sei zudem die kommende Welle der Pflegebedürftigen noch nicht berücksichtigt. Im Jahr 2050 wird die Zahl der heute 3,4 Mio. Pflegebedürftigen auf voraussichtlich 5,3 Mio. Menschen steigen.

Hinzu kommt, dass 42 Prozent der heutigen Beschäftigten bereits über 50 Jahre sind und die Zahl der Schulabgänger sinkt. Da Krankenhäuser seit dem Pflegestärkungsgesetz Pflegekräfte ohne Zusatzkosten einstellen können, ist der Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte enorm gestiegen.

Die Versorgungslandschaft in der Pflege

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Zufriedenheit der älteren Menschen

Was die Menschen wollen, ist Ausgangspunkt der Konzepte der advita Pflegedienst GmbH. Dr. Matthias Faensen, Vorsitzender des Beirats, stellte drei wesentliche Aspekte dar: Es geht um Selbstbestimmung, Teilhabe an der Gemeinschaft und die Sicherheit, das Hilfe da ist, wenn sie benötigt wird. Seine Gesellschaft verbindet sehr erfolgreich Formen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Die Angebote der Einrichtungen, wie beispielsweise Essen oder haushaltsnahe Dienstleistungen sind einzeln buchbar und können sowohl über die Tagespflege, das betreute Wohnen oder die stationäre Pflege gebucht werden. Der Schwerpunkt und Erfolgsfaktor liegt auf der Verbindung der Menschen, die in diesen Konzepten auch zu einer höheren Zufriedenheit des Personals führt. Zur Realisierung baut adivita an verschiedenen Standorten Bestandsimmobilien bedarfsgerecht um.

Gleichwohl erlebt das Unternehmen auch die erschwerende Rolle der Regulatorik: So legte der Kostenträger in einer Region Wert darauf, dass stationäre Bewohner, um zu dem Angebot der Tagespflege gelangen zu können, das Haus verlassen. Mit dieser Vorgabe verzichtete advita auf die Realisierung in dieser Region.

Finanzierung innovativer Konzepte

Vernetzte Konzepte zu fördern, sei nicht zuletzt mit Blick auf die Ausrichtung des Gesetzgebers sinnvoll. Mit der Marschrichtung „ambulant vor stationär“ verändert sich die Versorgungslandschaft auch strukturell.

Dies zeigt auch die Nachfrage bei der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (apoBank). Für Michael Gabler, Bereichsleiter Firmenkunden der apoBank, ist es für Finanzierungen im Pflegesektor wesentlich, die Besonderheiten des Marktes zu verstehen. So stellen beispielsweise die Landesverordnungen unterschiedliche Bedingungen, die in den Finanzierungskonzepten abgebildet werden müssten. Werden diese Fragestellungen berücksichtigt, seien innovative Konzepte durchaus finanzierbar und auch über lange Laufzeiten kreditwürdig. Hinsichtlich der Kriterien, die eine Bank prüfen müsse, nannte er u.a. die Betrachtung des Cashflows oder die Plausibilisierungen von demografischen Entwicklungen und Nachfragepräferenzen. Zunehmend, und auch in den nächsten Jahren, zähle ein schlüssiges Personalkonzept dazu.

Die Zukunft gehört der innovativen, vernetzten Pflege


Telematik in der Pflege

Die Digitalisierung bietet in der Pflege ein großes Potenzial, insbesondere um Schnittstellenprobleme zu lösen, Effizienzreserven zu heben und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Entsprechend des Referentenentwurfs „Digitale Versorgung Gesetz“ soll für die Pflege der Anschluss an die Telematikinfrastruktur und die Nutzung der elektronischen Patientenakte ermöglicht werden. Damit soll die Pflege in die sichere und einrichtungsübergreifende Vernetzung des Gesundheitswesens einbezogen werden.

Finanzielle Förderungen

Das Pflegepersonalstärkungsgesetz geht bereits explizit auf die Potentiale in der ambulanten und stationären Altenpflege ein. Investitionen in digitale Technik, die das Personal in der Pflege unterstützt, wird mit bis zu 12.000 Euro pro Einrichtung gefördert.

Aktuelle Digitalisierungsprojekte

Unter dem Titel „Schluss mit Silos und Einzellösungen: Die Zukunft gehört der innovativen, vernetzten Pflege“ stellten Hans-Joachim Fritzen, AOK Nordost, Dr. Nils Hellrung, vitagroup AG, Andreas Jöchl, cisco Deutschland GmbH und Rainer Mansken, BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin gGmbH, aktuelle Digitalisierungsprojekte vor.

Aufgrund der Finanzierung durch das SGB XII ist es dem BG Klinikum bereits seit zwanzig Jahren möglich, Prozesse- und Strukturen zu digitalisieren. Eine vernetzte Datenhaltung, Wissens-Management sowie abgestimmte Prozesse gehören zur gelebten Selbstverständlichkeit.

Die vitagroup AG hat u.a. in Kooperation mit der AOK Nordost einen virtuellen Pflegeberater konzipiert. Im Fall der eintretenden Pflegebedürftigkeit eines Versicherten liefert der virtuelle Pflegeberater erste Informationen und stellt den Kontakt zu dem realen Pflegeberater der AOK-Nordost her.

Mehr Zeit für Patienten gewinnen

Digitalisierung in der Pflege beschränkt sich bislang weitgehend auf den Bereich der Abrechnungen. Doch sie bietet weitaus mehr Möglichkeiten: Erstellung der Dienstpläne, Tourenplanung oder die Möglichkeit des sektorenübergreifenden Arbeitens. Den Pflegenden muss verdeutlicht werden, dass durch die Digitalisierung die knappe Ressource Mensch effizienter eingesetzt werden kann. Die Pflege kann entlastet und unterstützt werden. Auf diese Weise bleibt somit mehr Zeit für die Patienten.